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Leitbild der Dorfgemeinschaft

Vorwort

Inmitten von Not, Leid und Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, im Exil auf der Flucht vor dem HitlerRegime, nahm eine Vision Gestalt an. Es war die Vision eines umfassenden und freundschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens von Menschen mit den verschiedensten Schicksalen, Fähigkeiten und Behinderungen. Trennende Gegensätze sollten überwunden werden. Bei allen Unterschieden sollte um eines gemeinsam gerungen werden: voll-gültige Menschen zu sein und sich gegenseitig ein würdiges Leben zu ermöglichen. Im schottischen Camphill begann der Arzt und Anthroposoph Dr. Karl König mit gleichgesinnten Freunden eine Gemeinschaft einander helfender Menschen zu bilden im Sinne des Paulus: „Einer trage des anderen Last. So werdet ihr die Weisung Christi erfüllen“ (Galater 6,2). Karl Königs Idee hatte große Ausstrahlungskraft. Zahlreiche Gemeinschaften entstanden auf der Grundlage Camphills in zahlreichen Ländern auf der ganzen Welt. Sie sind inzwischen Lebenswirklichkeiten mit vielfältigen Erfahrungen und eigenen Biographien. Ebenso aber ist Camphill Vision geblieben, Aufgabe und Ideal. Das Leben in den Gemeinschaften vollzieht sich im spannungsvollen Bogen zwischen den alltäglichen, allzu menschlichen Sorgen und Unzulänglichkeiten und den großen Bildern, die vor ihnen stehen. Diese Leitbilder helfen, in der Wirklichkeit die wesentlichen Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren und immer neu mit der Verwirklichung der Ideale ernst zu machen.

Im Jahr 1964 begannen einzelne Persönlichkeiten damit, am Lehenhof eine Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderungen aufzubauen. Die erste deutsche Dorfgemeinschaft war zugleich die letzte Gründung durch Karl König selbst. Ausgangspunkt dieses Dorfes und Keimzelle für alle weitere Gestalt des Lehenhofs war ein Bauernhof auf biologisch dynamischer Grundlage. Um diesen Kern herum wurden Häuser für Menschen mit Behinderungen und Mitarbeiter sowie deren Familien gebaut, wurden Arbeitsplätze für alle geschaffen und durch einen Festsaal ein kulturelles Zentrum errichtet. Der Lehenhof will ein ‘Ort zum Leben’ sein. Hier möchten wir Lebensweisen entwickeln, die es Menschen mit verschiedenen Begabungen und Behinderungen ermöglichen, gut zu leben und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Diese Lebensweisen sollen in gleicher Weise dem gemeinsamen Wohl als auch dem Einzelnen in der Gemeinschaft dienen. Wir verstehen uns dabei vor allem als Suchende und Fragende, als lernende Gemeinschaft, die auf dem Weg ist, ihr gemeinsames Schicksal, ihre Ziele, ihr Leitbild zu entdecken.

 

Der Einzelne

Persönlichkeit

Die unverwechselbare Persönlichkeit jedes Menschen steht in der Mitte unserer gemeinschaftlichen Bemühungen. Grundlage ist uns dabei die anthroposophische Menschenkunde.

Würde

Jeder Mensch ist vom Augenblick seiner Zeugung an einzigartig und mit Geist begabt. Wir sind überzeugt, dass jedes menschliche Leben - auch das schwächste und hilfloseste – eine unantastbare Würde besitzt. Jeder Mensch möchte in seiner persönlichen Besonderheit verstanden, wertgeschätzt und geschützt werden.

Entwicklung

Jedes menschliche Leben möchte sich entfalten und weiter entwickeln. Der Reichtum eigener Entwicklungen prägt den persönlichen Lebenslauf. Am Lehenhof erleben wir uns als Wegbegleiter füreinander, besonders für jene Menschen, die unter erschwerten Bedingungen ihren Lebensweg gehen. In der menschlichen Biographie unterscheiden wir – gleich, wie behindert ein Mensch sein mag – zwischen der Kindheit und Jugendzeit einerseits und dem Erwachsensein andererseits. Wir sehen die Aufgaben der Erziehung und Heilpädagogik mit dem Ende der Jugendzeit als abgeschlossen an. Ein erwachsener Mensch will seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Dabei sucht er nach Weiterbildung, Begleitung und unterstützender Hilfe auf seinem eigenständigen Weg. In diesem Sinne hat der Lehenhof als Gemeinschaft mit Erwachsenen einen sozialtherapeutischen Auftrag.

Entwicklung bedeutet, Grenzen zu überschreiten. Behinderungen sind Begrenzungen. Wir sind bestrebt, vorhandene Behinderungen zu überwinden oder zu mildern und die Selbständigkeit des einzelnen zu fördern; aber auch, unüberwindbare Grenzen anzuerkennen. Es kann ein wesentlicher Entwicklungsschritt sein, die eigenen Behinderungen als das eigene Schicksal anzunehmen. Die Bereitschaft eines Mitarbeiters, sich zu schulen und zu entwickeln, halten wir für unentbehrlich für ein fruchtbares Zusammenleben mit den ihm anvertrauten Menschen.

Geist, Seele und Leib

Unser Leben entfaltet sich ganzheitlich, weil Geist, Seele und Leib zusammenwirken und miteinander verwoben sind. Darauf haben wir zu achten und ausgleichend zu wirken, wo sich Einseitigkeiten ausprägen.

Wohnen

Jeder braucht ein Zuhause, dem er sich zugehörig fühlt, in dem er durch vertraute Menschen Geborgenheit erfährt. Solche Orte möchten wir am Lehenhof in unseren Häusern schaffen. Sie sollen Raum geben für Begegnung, Gestaltung und auch Rückzug.

Arbeiten

Arbeit gehört zu den grundlegenden menschlichen Lebensäußerungen. Sie schafft Identität in unserem Verhältnis zur Welt. Unsere Arbeitsbedingungen in einer geschützten Umgebung sollen dieser Qualität gerecht werden. Am Lehenhof soll Arbeit sinnvoll sein und die Entwicklung und Selbstachtung des Arbeitenden fördern. Sie soll anderen Menschen nützen. Sie soll schließlich für die Umwelt verträglich sein oder ihr selbst dienen. Wir wollen in diesem Sinne einen Beitrag als Ausbildungsstätte für verschiedene Berufe des gesellschaftlichen Lebens leisten. Dazu gehört auch eine anthroposophisch erweiterte Ausbildung zum Heilerziehungspfleger (das ‘Camphill-Seminar’). Wir wollen es jedem Mitglied der Dorfgemeinschaft ermöglichen, am Arbeitsprozess teilzunehmen.

Kultur

Kultur dient dem Menschen, sich selbst in der Welt zu verstehen und auszudrücken. Wir sehen in Bildung, Kunst und Religion wesentliche kulturelle Äußerungen. Unser kulturelles Wirken soll das gesamte Dorfleben durchdringen, den einzelnen bereichern und zur Gemeinschaft unter uns beitragen. Das Christliche gilt uns als Grundlage unseres gemeinsamen Lebens. Wie überall in Camphill, entfaltet sich das religiöse Leben insbesondere im Feiern der christlichen Jahresfeste, in Bibelabend und Sonntagshandlung.

Begegnung

Keiner ist Mensch für sich allein. Wir leben nur in der Begegnung mit dem menschlichen Gegenüber, einem Du, das Ansprache und Anspruch an die eigene Person ist. Am Lehenhof wollen wir Schicksal miteinander tragen, uns mit Interesse und Wertschätzung wahrnehmen, begegnen und füreinander sorgen. Eine besondere Aufgabe sehen wir darin, die Andersartigkeit des Gegenübers anzuerkennen.

 

Die Gemeinschaft

Lebensgemeinschaft

Die Bildung einer Lebensgemeinschaft ist uns bleibende Aufgabe und Ziel. Unser Menschsein verwirklicht sich in den vielfältigsten Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Wollen wir auch den Menschen, die eine Behinderung als Schicksal tragen, ein erfülltes Leben ermöglichen, so hat das entscheidend mit unserer Gemeinschaft zu tun. Wir sind überzeugt, dass die sozialtherapeutische Arbeit erst dann sinnvoll wird, wenn das soziale Zusammenwirken der Menschen überhaupt erneuert wird.

Gemeinschaft beginnt für uns in solchen Lebenszusammenhängen, in denen nicht Leistungen und Hilfestellungen verrechnet werden, sondern die gegenseitig durch Interesse und Abhängigkeit geprägt sind.

Vielfalt

Um den persönlichen Besonderheiten jedes Einzelnen gerecht zu werden, brauchen wir eine Vielfalt von Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten. Kennzeichen dieser Vielfalt ist es, dass zum Lehenhof sehr unterschiedliche Menschen gehören und die Dorfgemeinschaft nach dem Maß ihrer individuellen Möglichkeiten mit tragen und gestalten: Familien mit Kindern und Alleinstehende, Junge und Alte, Menschen, die innerhalb der Dorfgemeinschaft und solche, die außerhalb wohnen. Das Dorfleben bildet sich aus den Bereichen des gemeinsamen Wohnens, Arbeitens und des gemeinsamen kulturellen Lebens.

Therapeutische Gemeinschaft

Angesichts einer Welt, in der vieles krank macht, wollen wir ‘Therapeutische Gemeinschaft’ sein. Für wesentlich erachten wir es, in umfassender Weise heilende wie gesunde Lebensprozesse zu entwickeln und zu leben. Diese Aufgabe stellt sich dem Einzelnen ebenso wie der Gemeinschaft. Dem gezielt therapeutischen Bereich kommt eine besondere Bedeutung zu.

Strukturen

Wir haben immer nach Strukturen gesucht, die helfen können, Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass diese Strukturen beweglich bleiben und Offenheit bewahren müssen zugunsten eines situationsgerechten Handelns. Feststehende Hierarchien wollen wir vermeiden, unser Leben auf kollegiale und partnerschaftliche Weise in Selbstverwaltung führen und eine Gleichberechtigung von Frauen und Männern leben. Anstelle von einseitiger Kontrolle üben wir uns in gegenseitiger Beratung und Zusammenarbeit. Wir wünschen uns, dass möglichst viele Menschen Verantwortung mit übernehmen, das Dorf mit gestalten und sich mit Anregungen und Ideen einbringen.

Soziale Dreigliederung

Wegweisend für unsere Gemeinschaft ist die Arbeit an der ‘Sozialen Dreigliederung’, wie sie von Rudolf Steiner entwickelt wurde. Das Dorfleben gliedert sich in einen Rechtsbereich, einen Wirtschaftsbereich und in einen Bereich des freien Geisteslebens (des freien Kulturlebens). Wir versuchen, soziale Gerechtigkeit zu schaffen, um keinen unangemessen zu benachteiligen oder zu bevorzugen; uns einander brüderlich zu unterstützen; Freiheit zu ermöglichen, die der Einzelne braucht zu seiner persönlichen Entwicklung.

 

Der Umkreis

Ebenso, wie jeder Mensch auf ein menschliches Gegenüber gewiesen ist, ist jede Gemeinschaft auf ihren Umkreis als Gegenüber gewiesen. Wir wollen diese Aufgabe bewusst als Zeitgenossen des beginnenden 21. Jahrhunderts verstehen.

Umkreis

Um als Lebensgemeinschaft bestehen und uns weiterentwickeln zu können, brauchen wir die Hilfe jener Menschen, die ihr nahestehen: die Hilfe der Angehörigen, Freunde, Betreuer, Wegbegleiter, wie auch der Gesetzgeber, Behörden, Wirtschaftspartner und Kostenträger. Mit diesem Umkreis des Lehenhofs, der uns unterstützt und mitträgt, sehen wir uns in besonderer Weise verbunden und suchen einen befruchtenden Austausch. Wir sind dankbar, durch Anregungen anderer lernen zu können.

Verantwortung

Als Zeitgenossen stellen wir uns der Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld, den sozialen Problemstellungen der Gegenwart wie der Zukunft. Unsere sozialen Bemühungen möchten ein Beitrag zur menschenwürdigen Gestaltung unserer Gesellschaft sein.

Natur

Lebensgrundlage des Menschen ist die Natur, die ihn umgibt. Wir versorgen uns aus der Natur, gestalten und gebrauchen sie und hinterlassen ihr unsere Spuren. Viele unserer Taten haben langfristige Folgen. Maßstab unseres Handelns soll sein, dass auch künftige Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden werden.

 

Nachwort

Dieses Leitbild wurde im Laufe des Jahres 1997 in vielfältigen Bemühungen entworfen, weiterentwickelt und verbessert. Im Jahr 2001 wurde es überarbeitet. Die Menschen am Lehenhof und Angehörige der Dörfler waren daran beteiligt. Entstanden ist ein Leitbild, das für uns wegweisenden und verbindlichen Charakter hat. Im Sinne des Leitbildes wollen wir die Dorfgemeinschaft weiter gestalten und entwickeln. Als Mitarbeiter verpflichten wir uns, dementsprechend am gemeinsamen Leben mitzuwirken.

Gleichwohl muß sich das Leitbild auf seine Vollständigkeit, Richtigkeit und seinen Bezug zur Lebenswirklichkeit hin immer neu bewähren. Anregungen und Kritik sind von jedermann willkommen.

Lehenhof, 21.10.2014